Technische Hochschule Mittelhessen

Blindenleitsystem 2.0

UHF-RFID hebt die Navigation für sehbehinderte und blinde Menschen auf ein neues Level.

Forschung und Firmen arbeiten Hand in Hand

Laut Schätzungen der WHO sind in Deutschland rund 1,2 Millionen Menschen sehbehindert oder blind – das heißt, dass diese Menschen auch mit Sehhilfe weniger als 30 Prozent von dem erkennen, was eine Person mit voller Sehkraft wahrnehmen kann. Im Anbetracht des demografischen Wandels wird der Anteil Blinder und Sehbehinderter auch in Zukunft weiter steigen.

Mitarbeiter von Fakultäten und Einrichtungen der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM) haben deshalb gemeinsam mit Partnern aus der freien Wirtschaft in einem öffentlich geförderten Forschungsprojekt an einem elektronischen, RFID-gestützten Blindenleitsystem gearbeitet. Ziel des Projektes: Die Navigation von blinden und sehbehinderten Menschen in Innenstädten, Bahnhöfen, Flughäfen und Behörden soll massiv vereinfacht und bereichert werden.

In dem im Oktober 2018 auslaufenden Projekt war geplant, in oder unter den herkömmlichen taktilen Leitsystem-Bodenplatten – aber auch herkömmlichen Gehwegen – RFID-Transponder zu integrieren. Diese sollen mit Hilfe einer in den Blindenlangstock integrierten Antenne ausgelesen werden können. Über eine von der THM entwickelte Smartphone-App können sehbehinderte Menschen so detaillierte Informationen über ihre Umgebung bekommen.

Die Transponder- Technik sowie die Applikation sind grundsätzlich fertig entwickelt und werden derzeit auf einer Teststrecke optimiert verfeinert. Auf der RFID & Wireless IoT tomorrow 2018 stellte das Projektteam seine Ergebnisse vor und gab einen Ausblick auf Möglichkeiten der Realisierung einer marktreifen Lösung.

Prof. Dr. Erdmuthe Meyer zu Bexten, geschäftsführende Direktorin und Andreas Deitmer, stellvertretender Direktor, BliZ (Zentrum für blinde und sehbehinderte Studierende) der Technischen Hochschule Mittelhessen, im Gespräch mit RFID im Blick.

Sichere und exakte Navigation für sehbehinderte Menschen

Um blinde und sehbehinderte Menschen zu unterstützen, gibt es viele Vorstöße, ihre alltägliche Autonomie sicherer zu gestalten. Andreas Deitmer, stellvertretender Direktor des Zentrums für blinde und sehbehinderte Studierende an der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM), hat sich im Rahmen des Forschungsprojekts für ein neues Blindenleitsystem auf Basis von UHF-RFID mit bisherigen Lösungen intensiv beschäftigt.

„Generell ist für blinde und sehbehinderte Menschen das wichtigste Orientierungsmerkmal noch immer der Blindenstock. Mit ihm taste ich den Untergrund vor mir ab, um mich vor Hindernissen zu schützen und anhand der Bodenbeschaffenheit zu orientieren. Auf dieser Basis funktionieren auch die taktilen Leitsysteme, wie sie in Innenstädten oder an Bahnhöfen zu finden sind.“

Andreas Deitmer erklärt die Funktionsweise des bisher nahezu einzigen Orientierungsmittels, das in zahlreichen Städten und an öffentlichen Plätzen wie Flughäfen verbaut wird. „In den Gehwegen werden Bodenplatten mit eindeutig identifizierbarer Oberfläche eingelassen: Auf den Platten mit Rillen kann ich entlanglaufen, die sogenannten Aufmerksamkeitsfelder mit runden, erhabenen Elementen zeigen Punkte von Interesse an.“ So zum Beispiel da, wo zwei Leitsysteme aufeinanderstoßen, sich ein Informationszentrum oder an einer Haltestelle im Optimalfall die vorderste Tür eines Busses befindet.

Grenzen bisheriger Systeme

„Das Problem mit den taktilen Systemen ist“, führt Prof. Dr. Meyer zu Bexten, geschäftsführende Direktorin am BliZ der THM aus, „dass die Aufmerksamkeitsfelder keinerlei Informationen darüber bieten, auf welche Einrichtung hingewiesen wird, nur der Hinweis ‚Hier ist etwas.‘. Mehr noch: Die genaue Lokation des Einganges ist kaum auszumachen, was für blinde Menschen ein wichtiges Thema ist. Ein RFID-Transponder an genau dieser Stelle könnte diese Lücken im System füllen.“

Auf diese Weise kann sehbehinderten Fußgängern eine zentimeterakkurate Navigationsgenauigkeit geboten werden. Andreas Deitmer erklärt: „Selbstverständlich werden Möglichkeiten wie Google Maps und andere GPS-Navigationssysteme von sehbehinderten Menschen genutzt, um sich per Sprachausgabe leiten zu lassen. Bei diesen Systemen besteht aber die Problematik, dass sie mit einer Genauigkeit von maximal fünf Metern agieren. Wenn man sich in einer Fußgängerzone befindet, stellt diese Ungenauigkeit für blinde Fußgänger eine Herausforderung dar – im Umkreis von fünf Metern können sich mitunter vier verschiedene Eingänge zu Geschäften oder Praxen befinden.

Auch wenn es bereits Forschungsprojekte gab, die sich mit dieser Herausforderung befassten, gibt es bisher noch kein Projekt, welches eine Lösung bis zur Marktreife entwickelt hat.“ Eine zentimetergenaue Standortbestimmung mit zusätzlichen Informationen für den Anwender – das sind die zentralen Vorteile der im vorliegenden Projekt an der THM erarbeiteten Lösung.

Forschung und Firmen arbeiten Hand in Hand

Dank einer öffentlichen Förderung durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie verfügte das Team über ausreichende Ressourcen bei der Umsetzung der Projektzielsetzungen. Andreas Deitmer erklärt: „Es war genau zu überlegen, wie genau die RFID-Chips im Untergrund verbaut werden konnten. Wie können sie geschützt werden? Wie reagieren sie auf Kälte, Nässe, Fußgänger, die über sie laufen, oder Lkws, die darüber hinwegfahren? Mit unserem Fachbereich Bau haben wir diese praktischen Herausforderungen einbezogen.“

Aber nicht nur Politik und Forschung waren an der Realisierung beteiligt. Beton- und Natursteinproduzent Rinn aus Heuchelheim stellte Materialien zur Verfügung, die den hohen Ansprüchen an die Bodenplatten genügten. „Die Firma Rinn beliefert unter anderem Bahnhöfe mit Bodenplatten beliefert und bietet auch individuelle Lösungen an“, berichtet Prof. Dr. Meyer zu Bexten über den Geschäftspartner. „Das war für uns die optimale Bedingung.“

Für die Entwicklung der erforderlichen Elektronik auf der technischen Seite hat sich das Projektteam mit der Firma Papenmeier aus Schwerte verstärkt, die sich unter anderem auf die Entwicklung von Blindenhilfsmitteln und Braille-Arbeitsplätzen im Reha- Technikumfeld spezialisiert hat. Das Projekt läuft seit Oktober 2016 und ist auf zwei Jahre ausgelegt – im November werden alle Hauptzielsetzungen erreicht sein, wie Andreas Deitmer berichtet.

Transponder im Boden, Antenne im Stock

Die Grundidee des Projektes besteht aus drei Komponenten. Die in die Bodenplatten verarbeiteten Transponder funken ihre individuelle Seriennummer. Dieses Signal soll mit einer Antenne gelesen werden, die per Nachrüstset am Blindenlangstock des Nutzers angebracht wird. Auch eine Manschette, die am Fußgelenk getragen wird, ist denkbar.

Dabei ist ein wichtiger Faktor, dass der Blindenlangstock als wichtiges Instrument nicht beeinträchtigt wird, weder durch die Antenne, noch durch das Gewicht des Akkus. Mittels Bluetooth wird die Identifikationsnummer dann an das Smartphone weitergeleitet, welches die dazugehörige Information aus der Datenbank ausliest. Die entsprechende App wurde vom Team der THM entwickelt.

Andreas Deitmer erläutert: „Sobald der Stock mit Antenne über den Transponder im Boden geführt wird und das verbundene Lesegerät die Chip-ID erfasst, wird diese mit den entsprechenden Informationen aus der Datenbank verknüpft. Per Sprachausgabe werden dem Sehbehinderten die entsprechenden Informationen dann vermittelt.“

Umsetzungen je nach Stand und Zielsetzung

An Orten, an denen taktile Leitsysteme bereits installiert sind, bietet sich ein Austausch der Bodenplatten durch diejenigen, in welche bereits ein Chip integriert ist, nicht an. Stattdessen soll in einem solchen Fall lediglich ein Transponder unter den bereits vorhandenen Platten angebracht werden. Im Normalfall aber sollen aber die integrierten Transponder zum Einsatz kommen.

Prof. Dr. Meyer zu Bexten berichtet: „Gemeinsam mit der Firma Rinn konnten Methoden und Möglichkeiten getestet werden, wie die RFID-Transponder direkt in die Bodenplatten integriert werden können. So gibt es bei der Verlegung der Bodenplatten auf dem Bau natürlich keine Komplikationen durch zusätzliche Anbauten oder ähnliches, denn für den Verleger ändert sich am Arbeitsablauf beim Einbau der getaggten Platte im Vergleich zu herkömmlichen Platten nichts.“

Bezüglich der Abstände der eingebetteten Transponder zueinander innerhalb einer Navigationsstrecke gibt es zwei unterschiedliche Szenarien, für welche unterschiedliche Lösungen zur Anwendung kommen sollen. Prof. Dr. Meyer zu Bexten erklärt: „Habe ich ein taktiles Leitsystem, an welchem ich mich mit meinem Stock entlangtaste, finde ich den Chip auf diese Weise. In diesem Fall ist ein Abstand von 2 Metern zwischen den Chips ausreichend. An Stellen, an denen kein taktiles Leitsystem vorhanden ist und der Transponder erst einmal von dem Sehbehinderten gefunden werden muss, ist ein Abstand von 30 Zentimetern sinnvoll.“

Punktgenaue Suche oder Stadtbummel

Die im Projekt entwickelte App soll zwei Funktionalitätsmodi für sehbehinderte Nutzer bereitstellen. Zum einen soll es möglich sein, ein bestimmtes Ziel anzuvisieren, und sich punktgenau dorthin leiten zu lassen. Im Prinzip ist die Anwendung damit einem GPS-System nicht unähnlich, wenn auch um ein Vielfaches genauer. Die zweite Funktion erstellt eine Art Umgebungskarte der vorhandenen RFID-Transponder.

Dabei kann der Nutzer wie bei einem Stadtbummel darüber informiert werden, welche Punkte von Interesse sich wo befinden. Auch eine Integration von Informationen bezüglich Rabattaktionen oder ähnlichem sind dabei denkbar, wobei jedoch erst die potenziellen Anwender daraufhin befragt werden sollen, ob an einer solchen Funktion ein grundsätzliches Interesse besteht.

Hard- und Software auf der Zielgeraden

Die von der THM entwickelte App ist einsatzbereit und wird bei Testläufen auf einer campusinternen Teststrecke weiterentwickelt und für die Praxis optimiert feingetuned. Auch bei der Hardware, dem Projektanteil der Firma Papenmeier, ist die Machbarkeit nachgewiesen. Vor allem die Nutzerfreundlichkeit bei der Umsetzung verschiedener Konzepte steht jetzt noch auf dem Prüfstand. Bis November 2018 soll auch diese Phase abgeschlossen sein. Städte und Gemeinden, ebenso wie betroffene Verbände, sollen bei der Evaluierung aller Komponenten beteiligt werden.

Andreas Deitmer erläutert das geplante Vorgehen: „Wir wollen ein Gefühl dafür bekommen, was die Menschen von der Lösung halten, die das System am Ende tatsächlich nutzen wollen. Blinde und sehbehinderte Mitarbeiter und Studierende hier an der THM durchlaufen dafür unter anderem unsere zwei unterschiedlichen Teststrecken. Einerseits sind die Fußgängerzonen jeder Stadt unterschiedlich, schon allein mit Blick auf die Beschaffenheit unterschiedlicher Steine auf den Wegen. Andererseits hat jeder Mensch eine eigene Lauftechnik.“

Wie schnell die Fortbewegung auf einem RFID-basierten Pfad funktioniert und in welchen Abständen die Tags optimal platziert werden müssen, sind dabei Hauptuntersuchungsziele der Demonstrationsstrecken.

Auch Indoor-Anwendungen sind denkbar

Ein System, wie es vom Projektteam an der THM entwickelt wurde, hat das Potenzial, auch in anderen öffentlichen Räumen adaptiert zu werden, die für Sehbehinderte aufwändig navigierbar sind. Andreas Deitmer erläutert dahingehende Überlegungen: „Ein Thema sind dabei immer Bahnhöfe. Darüber hinaus haben wir diskutiert, wie Museen, Opern, Messen, und öffentliche Plätze von dem System profitieren könnten.“

In diesem Zusammenhang hat das Projektteam bereits einen Förderfolgeantrag gestellt, der aber bislang noch nicht bewilligt wurde. „Wenn wir uns diesem Thema widmen, muss man sehen, ob RFID wieder die richtige Wahl ist. Auch mit Wifi oder NFC können in geschlossenen Räumen gute Ergebnisse erzielt werden“, erläutert Andreas Deitmer. „Unser erklärtes Ziel ist es definitiv, die Möglichkeiten in anderen Bereichen weiter zu erforschen.“

Ausweitung auf sehende Nutzer

Je nachdem, welche Daten in der Datenbank hinterlegt werden, können nicht nur blinde und sehbehinderte Menschen von dem Projekt profitieren. Auch sehende, Rollstuhlfahrern oder älteren Menschen könnte die Mischung aus Navigation und Information den Alltag erleichtern, abhängig davon, wie groß der Datenbestand gefasst wird. Auch wenn die App bereits einsatzbereit ist, wird es noch Zeit in Anspruch nehmen, bis sie in den App-Stores veröffentlicht wird.

Zu der aktuellen iOS-Version soll eine auf Android basierende Variante hinzukommen. Langfristig erhofft sich das Forscherteam, dass ihr System nicht nur von Gemeinden und Nutzern gut angenommen, sondern auch in den Hilfsmittelkatalog aufgenommen wird. Andreas Deitmer: „Wenn das RFIDbasierte Hilfsmittel die Zertifizierung bekommt, würde es auch von Kostenträgern übernommen werden. Aber das ist, Stand heute, noch eine sehr ferne Möglichkeit.“

Anja Van Bocxlaer
Anja Van Bocxlaer
Chefredakteurin und Konferenzmanagerin
Lüneburg, Deutschland
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